Versprechen am Kaminfeuer

Reinhard, 63, Dezember 2022

Das Kaminfeuer knistert entspannt und der Tee vor mir dampft in seiner Tasse. Draußen tobt ein Schneesturm. Schwere Flocken vereinen sich vor dem schwarzen Himmel zu einer undurchdringlichen Wand. Ich komme mir töricht vor. Wenn es jemals eine Wahrscheinlichkeit gegeben hat, dass jemand von ihnen käme, eine Wahrscheinlichkeit von eins zu einer Million, dann macht dieses unwirtliche Wetter selbst diese verschwindend geringe Chance zunichte.

 

Geister der Vergangenheit

Jemand von ihnen – das heißt, noch jemand von uns fünf. Denn ich bin ja schon da. Ich, der verrückte Frührentner, der an Heilig Abend nichts besseres zu tun hat, als in einer alten Gaststätte mitten im Nirgendwo, umringt von endlosem Schnee und heulendem Wind, am prasselnden Kaminfeuer auf Geister der Vergangenheit zu warten.

 

Mein bester Kumpel Karl, der rothaarige, sommersprossige Kerl, auf den ich in jeder Lebenslage zählen konnte. Das war auch bitter nötig, denn Karl und ich brachten uns ständig in Schwierigkeiten.

 

Herbert, der vornehme Einserschüler. Stets gepflegt, hielt er sich immer an Regeln und tat nie etwas Verbotenes. Lange Zeit fand ich ihn unausstehlich. Doch dann ertappte er mich bei dieser Mutprobe, die mich die Zukunft hätte kosten können. Und hielt dicht. Sagte zu niemandem ein Wort.

 

Nadja, die schöne Blonde. Das schönste Mädchen im Ort, jeder in der Schule schwärmte von ihr. Aber das war ihr egal, sie hing nur mit uns ab. Mit Karl, Herbert und mir.

 

Und Lili. Meine heimliche Liebe. Still, geheimnisvoll. Große dunkle Augen, tief wie der Nachthimmel.

 

Altes Blatt Papier

Die Flammen im Kamin winden sich in wildem Tanz. Bei jeder Sturmböe flackern sie, als wollte der Sturm sich Zutritt zum Haus verschaffen über den Schornstein. Die behagliche Wärme und der harzige Duft von Holz wirken sedierend, ich habe das Gefühl, gleich einzudämmern.

 

Um mich zu beschäftigen, greife ich zu dem gefalteten Blatt Papier. Alt, trocken und pergamentartig raschelt es in meiner Hand. Vergilbt, durchscheinend. Ich falte es auseinander.

 

Karl habe ich seit meinem Schulabschluss nicht mehr gesehen. Wir zerstritten uns wegen eines Mädchens. Am Ende bekam sie keiner von uns, aber es kostete uns die Freundschaft.

 

Herbert ging in den 80-ern ins Ausland. Erst Europa, dann Kanada. Eine Weile schickte er Postkarten. Seit den 90-ern hörte ich nichts mehr von ihm.

 

Nadja hatte ich zuletzt 2002 gesprochen. Vor 20 Jahren. An Weihnachten rief sie mich unerwartet an und wünschte mir ein frohes Fest. Sie war glücklich verheiratet und hatte eine große Familie.

 

Lili verschwand noch während unserer Schulzeit. Riss aus bei Nacht und Nebel, verließ unser Heimatdorf und niemand wusste, was aus ihr geworden war.

 

Ich war aber auch nicht leicht zu finden. Seit vielen Jahren lebe ich zurückgezogen und in den sozialen Netzwerken kennt man mich nur unter meinem Pseudonym.

 

Vor 50 Jahren am Kamin

„Am 24.12.2022, um 20 Uhr, treffen wir uns in der Bergischen Teestube, am Tisch beim Kamin.

 

Wir schwören auf unsere Freundschaft.

 

Karl

Herbert

Nadja

Lili

Reinhard

 

Bergische Teestube, 24.12.1972“

 

So steht es in unserem Versprechen. Wir hatten es fünfmal aufgeschrieben, jeder von uns erhielt einen solchen Zettel. Damals, vor 50 Jahren. Wir waren 13.

 

Es ist nun 22 Uhr. Das Kaminfeuer erlischt langsam. Nur noch ein paar Funken glühen vor sich hin. Der Sturm draußen tobt unaufhörlich.

 

Ich knülle das alte Papier zusammen und schmeiße es in den Kamin. Das Feuer flammt ein letztes Mal kurz auf, bevor es endgültig erlischt. Dann schaue ich resigniert zu meiner leeren Teetasse.

 

„Dieser Sturm…“

 

Erschrocken fahre ich hoch.

 

„Ich bin wohl spät dran…“

 

Ich blicke auf.

 

Sie sieht älter aus. Viel älter. Aber ihre Augen sind dieselben wie damals.

 

„Lili…“ flüstere ich.